Hessische Sozialcharta

Das soziale Klima in Hessen hat sich verändert. Hierzu haben die „Agenda 2010“, an deren Umsetzung die hessische Landesregierung tatkräftig mitgewirkt hat, die hessischen Kürzungen der „Operation Sichere Zukunft“ und die dramatische Finanzkrise in den Kommunen erheblich beigetragen. Wir erleben zurzeit sozialpolitische Veränderungen und eine politische Situation, die deutlich machen, dass es keinen Konsens mehr hinsichtlich der Grundlagen und der Weiterentwicklung unseres Sozialstaates gibt.

Nach einem Konsultationsprozess wollen die Mitglieder des Bündnisses „Soziale Gerechtigkeit in Hessen“ mit der Hessischen Sozialcharta Grundlagen, Grundwerte und Grundrechte in Erinnerung rufen, die aus ihrer Sicht für den Sozialstaat und seine Weiterentwicklung unverzichtbar sind. Aus diesen Grundlagen, Grundwerten und Grundrechten ergeben sich Forderungen – auch an die hessische Landespolitik.

Das Bündnis „Soziale Gerechtigkeit in Hessen“ richtet sich mit der Hessischen Sozialcharta an alle Bürgerinnen und Bürger sowie an alle, die politische Verantwortung tragen. Das Bündnis will mit der Sozialcharta einen Beitrag zur Diskussion über die Weiterentwicklung des Sozialstaates leisten.

 

I. Grundlagen des Sozialstaates: Demokratie, Solidarität, Zukunftsfähigkeit
Der Sozialstaat ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Er ist das „Ideal der sozialen Demokratie in den Formen des Rechtsstaates“ (BVerfG). Da marktwirtschaftliche Instrumente alleine nicht in der Lage sind, soziale Sicherheit zu gewährleisten, ist der Sozialstaat auch kein beliebig reduzierbares Anhängsel der Marktwirtschaft. Vielmehr hat der Staat die Aufgabe, soziale Sicherheit für alle zu gewährleisten und eine Politik des sozialen Ausgleichs zu betreiben. Demokratie braucht eine soziale Grundlegung.

 

Das Bündnis „Soziale Gerechtigkeit in Hessen“ setzt sich daher für einen demokratischen, solidarischen und zukunftsfähigen Sozialstaat ein.


Demokratisch heißt für uns, dass
•alle Bürgerinnen und Bürger ihre verfassungsgemäßen Rechte wahrnehmen können
•niemand aus kulturellen, religiösen, sozialen oder ökonomischen Gründen ausgegrenzt wird
•politische und soziale Rechte zusammen gehören: Um die Würde und die Freiheit des Menschen sichern zu können,
     muss als unerlässliche Voraussetzung eine angemessene materielle Basis gegeben sein.

 

Solidarisch heißt für uns, dass
•alle Bürgerinnen und Bürger in einer demokratischen Gesellschaft wechselseitig mit Rechten und Pflichten verbunden
     sind
•alle Bürgerinnen und Bürger wechselseitig nach ihrem Leistungsvermögen so füreinander einstehen, dass Stärkere die
     Lasten der Schwächeren mittragen
•der Staat als Garant dieser wechselseitigen Solidarität Verantwortung hat für die soziale Sicherheit aller Bürgerinnen 
     und Bürger
•alle Bürgerinnen und Bürger sowie die Unternehmen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur Finanzierung der
     sozialen Sicherungssysteme herangezogen werden.

 

Zukunftsfähig heißt für uns, dass
•die sozialen Sicherungssysteme eine Zukunft ohne finanzielle Not bieten sollen
•auch nachfolgende Generationen noch eine lebenswerte Zukunft haben können
•Investitionen in Bildung, soziale Sicherheit und Infrastruktur unverzichtbare Zukunftsinvestitionen sind: Sie sind eine
     Voraussetzung für die Entfaltungs-Chancen zukünftiger Generationen.

 

Solidarität und soziale Gerechtigkeit sind unverzichtbare Orientierungsmaßstäbe für einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat.

 

Mit der UN-Menschenrechtserklärung sehen wir in der Verwirklichung der sozialen Menschenrechte unverzichtbare Ziele der Sozialpolitik. Dazu gehören das Menschenrecht auf soziale Sicherheit, das Menschenrecht auf Arbeit und das Recht auf eine Entlohnung, die eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert. Wohnen, Gesundheit, Bildung und soziale Dienstleistungen müssen allen Menschen zugänglich sein – dies darf nicht abhängig sein von der individuellen Kaufkraft.
Soziale Sicherheit trägt zum Wohlstand einer Gesellschaft bei und macht sie nicht arm.

 

II. Unzureichende Problemlösungen
Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Deshalb sind die Voraussetzungen, einen demokratischen, solidarischen und zukunftsfähigen Sozialstaat zu verwirklichen, in der Bundesrepublik Deutschland gegeben.

 

Die Verwirklichung der Ziele eines solchen Sozialstaates ist bereits in der Vergangenheit nur unzureichend gelungen; wir sind nun dabei, uns von diesem noch weiter zu entfernen. Es besteht Reform-bedarf – wie zu allen Zeiten.
•Seit Jahren wächst die Kluft zwischen privater Armut und privatem Reichtum: Viele Menschen leben unterhalb oder am
     Rande des sozio-kulturellen Existenzminimums. Insbesondere die Armut von Kindern und die prekäre wirtschaftliche
     Situation vieler Familien ist nicht hinnehmbar.
•Seit mehr als zwei Jahrzehnten herrscht Massenarbeitslosigkeit: Schon lange gelingt es nicht mehr, dem Menschenrecht
     auf Arbeit Geltung zu verschaffen.
•Mitten im Reichtum nimmt auch die Finanzkrise des Staates zu.
•Wirklich überzeugende und nachhaltige Lösungen sind zurzeit nicht in Sicht: Weder die bundes-politische „Agenda 2010“
     noch die hessische „Operation Sichere Zukunft“ leisten einen Beitrag zur Bekämpfung von Armut, Arbeitslosigkeit und
     der Finanzkrise.

 

III. Begriffsumdeutungen
Die voranschreitende soziale Spaltung unserer Gesellschaft wird in der öffentlichen wie politischen Diskussion durch eine Umdeutung der Begriffe „Solidarität“, „Gerechtigkeit“, „Subsidiarität“ und „Freiheit“ begleitet. Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger werden neu gewichtet.
•Solidarität wird verkürzt auf zwischenmenschliche Solidarität.
     Aber: Die Gewährleistung der gesamtgesellschaftlichen Solidarität durch den Staat darf nicht da-gegen ausgespielt
     werden.
•Gerechtigkeit wird verkürzt auf Fairness und Chancengerechtigkeit. Verteilungsgerechtigkeit wird denunziert.
     Aber: Ohne Verteilungsgerechtigkeit gibt es keine gleiche Chancen für alle.
•Subsidiarität wird verkürzt auf die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger für ihre soziale Sicherheit.
     Aber: Subsidiarität bedeutet, „die Einzelpersonen und die untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen zu schützen und
     zu unterstützen, nicht jedoch, ihnen wachsende Risiken zuzuschieben. Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und
     Sozialstaat gehören insofern zusammen. Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt
     nicht: den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen.“ (Sozialwort der Kirchen von 1997)
•Freiheit wird verkürzt auf die Freiheit zur Selbsthilfe und zur Selbstvermarktung.
     Aber: Die Verwirklichung von Freiheit ist gebunden an materielle Voraussetzungen.

 

Durch die Umdeutung der Grundwerte soll die Reformpolitik legitimiert werden.

 

IV. Reformen richtig ausrichten
Es ist unbestritten, dass der Sozialstaat reformiert werden muss. Eine Politik, welche den Umbau des Sozialstaates einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer, der Kranken, der Alten und sozial Schwachen vorantreibt, und gleichzeitig die Unternehmen und Reichen entlastet, missachtet die soziale Balance. Reformieren heißt aber, dass sich die Lebensverhältnisse der Menschen bessern und mehr Solidarität entsteht. Um jedoch die soziale Sicherheit verbessern zu können, müssen erst die Schwächen des derzeitigen Sozialstaates klar beschrieben und im Sinne eines demokratischen, solidarischen und zukunftsfähigen Sozialstaates abgebaut werden.
Die Reform des Sozialstaates muss mehr Solidarität und Gerechtigkeit als Ziel haben – und nicht weniger. Das heißt aber auch, dass alle Bürgerinnen und Bürger an den Leistungen der sozialen Sicherungssysteme teilhaben und an der Finanzierung beteiligt werden.

 

V. Für eine hessische Reform-Offensive
Das Bündnis „Soziale Gerechtigkeit in Hessen“ fordert von den politisch Verantwortlichen in Hessen sozialpolitische Initiativen auf Bundes- und auf Landesebene, die sich am Leitbild eines demokratischen, solidarischen und zukunftsfähigen Sozialstaates orientieren. Das heißt beispielsweise,
•eine Reform der sozialen Sicherungssysteme, die sich konsequent am Solidarprinzip orientiert
•eine bedarfsdeckende Grundsicherung
•die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit: Hierzu brauchen wir eine Umverteilung von Arbeit, damit alle Arbeit haben
     können

•    die Teilhabe von Migrantinnen und Migranten am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten
•die konsequente Bekämpfung der Armut bei Kindern und Jugendlichen: Dabei hat die Schul-, Gesundheits- und
     Sozialpolitik die Förderung dieser benachteiligten Kinder und Jugendlichen besonders in den Blick zu nehmen
•die angemessene und bedarfsorientierte Versorgung der Bevölkerung mit sozialen Diensten und Einrichtungen
•den Einsatz für eine leistungsgerechte Besteuerung: Die Ertragskraft der Unternehmen, größere Vermögen und 
     Einkommen sind so an der Finanzierung der Gemeinschaftsaufgaben des Staates zu beteiligen, dass der Staat seine
     Aufgaben erfüllen kann.

 

Ein modernes Hessen braucht einen leistungsfähigen Sozialstaat.

 

Frankfurt a. M., 18. September 2004
Bündnis „Soziale Gerechtigkeit in Hessen“